Alle Jahre wieder … kommt nicht etwa das Christuskind, sondern die immer gleiche Frage auf: »Hat Jesus wirklich gelebt?«. In Zeitschriften und TV wird – oft zu Ostern oder Weihnachten – der Lauf der Menschheitsgeschichte angezweifelt: Basiert das Christentum auf einem historischen Schwindel? Ist der Religionsstifter aus Nazareth ein Mythos, die Jesus-Geschichte nur eine Legende, die sich über die Jahrhunderte entwickelte?
Dabei mögen die Argumente gegen die Historizität von Jesus vielen Laien plausibel erscheinen, jedoch werden sie von kaum einem Experten ernst genommen. Unter Historikern und Theologen herrscht eine breite Übereinstimmung darüber, dass Jesus von Nazareth eine geschichtliche Person war. Sogar überzeugte Kritiker des Glaubens wie der Neutestamentler Bart Ehrman sehen das so: »Was auch immer Sie sonst über Jesus denken – er hat auf jeden Fall existiert.« Und dies ist keine Minderheitenmeinung, so Ehrman weiter: »Sie wird quasi von jedem Experten auf diesem Planeten vertreten.«¹
Trotzdem hält sich die Auffassung, Jesus habe nie gelebt, überraschend hartnäckig. Ihren Ursprung fand sie in der Aufklärung der 1750er Jahre. Im 19. Jahrhundert hatte die These mit ihrem einflussreichsten Vertreter, dem Theologen Bruno Bauer², ihren Zenith erreicht. Unter Theologen und Wissenschaftlern sind ihm jedoch nur wenige extreme Skeptiker gefolgt. Heute ist der bekannteste unter ihnen der US-amerikanische Neutestamentler Robert Price³, der als ehemaliger Baptisten-Pastor mit seinem Übertritt ins »Jesus-Mythos-Lager« Mitte der 1990er Jahre für Aufmerksamkeit sorgte.
Den Zweifeln zum Trotz gibt es sehr gute Argumente für die Geschichtlichkeit Jesu: zum Beispiel außerbiblische antike Textbelege oder der Einfluss, den Jesus auf das Leben seiner ersten Nachfolger hatte. Werfen wir zunächst einen Blick auf außerbiblische Quellen.
Außerbiblische antike Textbelege
Wir verfügen über wenige nichtchristliche Texte aus dem ersten Jahrhundert, die über Jesus berichten. Dieser Umstand ergibt sich aus der Natur der Sache: Wie wir sehen werden, war das Christentum in den Augen einflussreicher Römer – Geschichtsschreiber, Politiker, Kaiser – nicht nur eine fremdartige, seltsame Sekte, sie lehnten es als »Unheil« rundweg ab. Der christliche Glaube war verachtet und wurde als Spinnerei, Charakterschwäche und Peinlichkeit abgetan. Es verwundert also kaum, dass Jesus und seine Jünger nicht den Stoff für antike römische Bestseller abgaben.
So haben vor allem diejenigen über den Glauben geschrieben, die am meisten daran interessiert waren – Christen selbst. Das ist jedoch kein Grund dafür, ihre Berichte als von einer missionarischen Agenda getriebenen Geschichtsfälschung anzuzweifeln. Im Gegenteil, frühe christliche Texte zeichnen sich dadurch aus, dass darin schwierige Stellen nicht »geglättet« wurden. Widersprüchlich erscheinende Berichte wurden nicht harmonisiert. Die ersten Christen legten größten Wert darauf, die historischen Berichte exakt so zu überliefern, wie sie sie erhalten hatten.
Obwohl unzählige Augenzeugen im Fall von etwaiger Geschichtsfälschung hätten Einspruch erheben können, haben wir keine Belege für derartige Einwände. Vielmehr stützen die nichtchristlichen antiken Texte die Grundaussagen des Glaubens. Sehen wir uns drei der wichtigsten Texte dazu näher an, beginnend mit den Annalen von Cornelius Tacitus.
Cornelius Tacitus
Tacitus wurde um das Jahr 56 n. Chr. geboren und hatte im Lauf seiner Karriere wichtige politische Ämter inne. Doch ist er heute besonders als Historiker bekannt – und geachtet! Im Oxford Companion to Classical Literature heißt es über ihn: »Vor allem die Annalen zeigen, dass Tacitus einer der größten Geschichtsschreiber war. Er hatte tiefe Einblicke in Charaktere und ein nüchternes Verständnis der Themen jener Zeit.«⁴
Tacitus’ Annalen wurden um 110 n. Chr. veröffentlicht und gelten als Höhepunkt römischer Geschichtsschreibung. Darin berichtet er u.a. über die Christenverfolgung, die unter Kaiser Nero losbrach. Ursache dafür war der große Brand Roms, der 64 n. Chr. weite Teile der Stadt verwüstete. Neben Tacitus vermuten Plinius der Ältere und andere antike Historiker, dass Nero selbst den Brand gelegt hatte. Tacitus beschreibt, dass Nero von sich ablenken wollte und die Christen der Stadt für die Katastrophe verantwortlich machte:
Doch keine menschlichen Vorkehrungen, keine Freigebigkeit des Fürsten oder Sühne der Götter konnte die Schmach entfernen, dass man glaubte, der Brand sei auf Befehl gelegt worden. Um also dieses Gerücht niederzuschlagen, schob Nero die Schuld auf andere und belegte mit den ausgesuchtesten Strafen jene Menschen, die das Volk wegen ihrer Schandtaten hasste und Christen nannte. Ihr Namensgeber, Christus, war unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden. Für kurze Zeit war jene heillose Schwärmerei dadurch unterdrückt, brach aber aufs Neue aus, nicht allein in Judäa, von wo das Unheil ausgegangen war, sondern auch in der Hauptstadt, in die von überallher alle Gräuel und Schändlichkeiten zusammenströmen und Anklang finden. Daher wurden zuerst diejenigen ergriffen, die Geständnisse ablegten, sodann auf ihre Angabe hin eine gewaltige Menge Menschen, die weniger wegen der ihnen zur Last gelegten Brandstiftung als wegen ihres allgemeinen Menschenhasses als überführt galten. Mit denen, die zum Tod bestimmt waren, trieb man noch Hohn: in Felle wilder Tiere eingenäht wurden sie von Hunden zerfleischt oder mussten ans Kreuz geschlagen und angezündet nach Einbruch der Dunkelheit als nächtliche Beleuchtung brennen. Seine eigenen Garten hatte Nero zu diesem Schaustück hergegeben, und gab ein Zirkusspiel, wobei er sich im Kostüm eines Wagenlenkers unter das Volk mischte oder auf dem Wagen stand. So strafbar daher auch jene Menschen waren und so sehr sie die äußersten Strafen verdient hatten, regte sich doch Mitleid, weil sie nicht dem Nutzen der Allgemeinheit, sondern der Grausamkeit eines einzigen geopfert würden.
Tacitus, Annales 15.44
Neben den unerträglichen Gräueltaten, die an unschuldigen Christen verübt wurden, fallen hier besonders die Übereinstimmungen auf, die Tacitus’ Bericht mit dem des Neuen Testaments aufweisen:
- es gab eine große Anzahl von Christen – viele von ihnen lebten in Rom,
- der christliche Glaube stieß auf offene Ablehnung,
- »Christus« war der Begründer der Bewegung,
- Jesus wurde in der Regierungszeit des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet,
- die Bewegung fand mit der Hinrichtung Jesu überraschenderweise nicht ihr Ende, sondern verbreitete sich von Judäa ausgehend im ganzen Reich
Gerade die frühe Verbreitung des Christentums stellt Skeptiker vor Probleme: Ohne einen historischen Jesus ist es unerklärlich, warum die Bewegung in ihren ersten Jahren ein solch extremes Wachstum erlebte. Offensichtlich waren die Menschen in der römischen Welt davon überzeugt, dass Jesus kein Mythos war. Und selbst feindselig gestimmte Historiker wie Tacitus kamen nicht im Traum darauf, die Existenz der historischen Person Jesus zu leugnen.
Plinius der Jüngere
Unser zweiter römischer Zeuge ist Plinius der Jüngere, der um 61 n. Chr. geboren wurde. Als erfolgreicher Politiker wurde er gegen Ende seiner Karriere zum Statthalter von Bithynien und Pontus ernannt. Plinius schrieb mehrere Briefe an Kaiser Trajan, der von 98 bis 117 n. Chr. regierte. In Plinius’ bekanntestem Brief an den Kaiser fragt er, wie er mit den Christen verfahren sollte.
Einstweilen bin ich mit denen, die bei mir als Christen angezeigt wurden, folgendermaßen verfahren: ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. Die Geständigen habe ich unter Androhung der Todesstrafe ein zweites und drittes Mal gefragt. Die dabei blieben, ließ ich abführen. Denn ich war der Überzeugung, was auch immer es sei, was sie damit eingestanden, daß auf alle Fälle ihr Eigensinn und ihre unbeugsame Halsstarrigkeit bestraft werden müsse. (…) Diejenigen, die bestritten, Christen zu sein oder gewesen zu sein, glaubte ich freilassen zu müssen, da sie mit einer von mir vorgesprochenen Formel die Götter anriefen und vor Deinem Bild, das ich zu diesem Zwecke zusammen mit den Bildern der Götter herbeibringen ließ, mit Weihrauch und Wein opferten und außerdem Christus schmähten, Dinge, zu denen wirkliche Christen, wie man sagt, nicht gezwungen werden können. (…) Sie versicherten darüber hinaus, ihre ganze Schuld oder ihr ganzer Irrtum habe darin bestanden, daß sie sich gewöhnlich an einem bestimmten Tage vor Sonnenaufgang versammelten, Christus wie einem Gott einen Wechselgesang darbrachten und sich durch Eid nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen verpflichteten, sondern keinen Diebstahl, Raubüberfall oder Ehebruch zu begehen, ein Versprechen nicht zu brechen, eine angemahnte Schuld nicht abzuleugnen.
Plinius, Epistulae 10.96
Auch hier deckt sich der Bericht des Plinius mit dem, was wir aus biblischen Quellen über das frühe Christentum wissen: Christus wurde als Gott angebetet – für jüdische Christen die größte denkbare Gotteslästerung, wenn sie nicht felsenfest davon überzeugt gewesen wären, dass Jesus tatsächlich der Mensch gewordener Gott war. Ein Glaube, der nicht vom historischen Messias ausgegangen wäre, hätte sich – in der Anfangszeit unter Juden – unmöglich halten, geschweige denn ausbreiten können.
Flavius Josephus
Der dritte nichtchristliche Historiker auf unserer Liste ist Flavius Josephus. Er wurde um 37 n. Chr. geboren, war zunächst Befehlshaber der jüdischen Armee, um schließlich – von den Römern gefangen genommen – mit dem Reich zu sympathisieren und sich Kaiser Vespasian anzudienen. Er gilt als der wichtigste Historiker Palästinas im ersten Jahrhundert.
In seinen Jüdischen Altertümern berichtet Josephus nicht nur über Jesus, sondern auch über Johannes den Täufer und Jakobus, den Bruder von Jesus. An zwei Stellen schreibt er über Christus – die weniger bekanntere (aber historisch besser gesicherte) handelt vom jüdischen Hohepriester Ananus. Als um 62 n. Chr. kein Statthalter regierte, nutzte Ananus das Machtvakuum und verhängte mehrere Todesstrafen, die seiner Beliebtheit dienen sollten:
[Ananus] versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andre, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ.
Flavius Josephus, Antiquitates 18.63–64
Die geschilderte Situation passt gut zu den Berichten von Tacitus und Plinius: Schon sehr früh wurden Christen verfolgt und ihre Anführer hingerichtet. Außerdem offenbart sie noch ein interessantes Detail: Zu den Führern der christlichen Urgemeinde gehörten enge Familienangehörige von Jesus. Jakobus war wohl der Leiter der Jerusalemer Gemeinde. Niemand kannte Jesus so gut, wie seine eigenen Brüder, mit denen er aufgewachsen war. Dass ausgerechnet diejenigen, die Jesus von klein auf kannten, bereit waren, für ihren Glauben an ihn zu sterben, spricht Bände darüber, was sie über Jesus dachten – nicht nur über ihn als historische Person, sondern auch als den Messias.
Betrachten wir noch ein weiteres Argument für die Historizität Jesu: das Leben der ersten Christen.
Das Leben der ersten Christen
In seinem faszinierenden Buch The Rise of Christianity zeichnet der Soziologe Rodney Stark die unwahrscheinlichste aller Geschichten nach: die vom Aufstieg des Christentums⁵. Ausgerechnet diese kleine, obskure »Sekte«, die am Rand des Reiches ihren Anfang nahm, tritt einen in der Menschheitsgeschichte einzigartigen Siegeszug an. Wobei das Gründungsereignis des Christentums – die Kreuzigung – in der Römischen Welt die größtmögliche Niederlage markierte und seine Anhänger verachtet, gehasst, verfolgt und getötet wurden. Der »Siegeszug« des Christentums bedarf also einer Erklärung.
Stark findet diese in den Auswirkungen, die der Glaube auf das Leben der Menschen hatte. Gerade benachteiligte und schwache Gruppen erlebten eine Aufwertung ihrer Lebensumstände, die vor dem Christentum nicht denkbar gewesen war. Es waren Frauen, Kinder, Sklaven, Alte und Kranke – die schwächsten und besonders benachteiligten Menschen der damaligen Welt –, die durch den Glauben an Jesus an einer ganz neuen Menschenwürde Anteil hatten.
Unter Christen wurden Teenagerinnen nicht mehr verheiratet, sondern hatten ein Mitspracherecht bei der Partnerwahl und konnten später als ihre nichtchristlichen Altersgenossinnen heiraten. Neugeborene Mädchen wurden nicht mehr zum Sterben auf die Straße gelegt, weil sie ungewollt waren. Das Leben der Sklaven verbesserte sich spürbar. Gefängnisinsassen, Alte und Kranke wurden ernährt, gepflegt, geschützt. Stark zufolge war die christliche Ethik der »Motor« der Bewegung.
Diese unvergleichliche Neuausrichtung von Werten und Normen fußt nicht nur auf der Lehre, sondern auf der Person Christi. Jesus sagte nicht: Glaubt an das, was ich sage. Er sagte: Glaubt an mich (Joh 14,1). Selbst die oberflächlichste Analyse des christlichen Glaubens macht klar: Es ist unmöglich, das Christentum von der Person Jesus Christus zu trennen. Dass ausgerechnet die dynamischste, das Gesicht der Welt am schnellsten und stärksten umwandelnde Bewegung der Geschichte keine historische Grundlage in Jesus Christus – wahrer Mensch und wahrer Gott – haben sollte, ist so unwahrscheinlich, es käme einem Wunder gleich.
[Autor: Velimir Milenković. Artikel zuerst erschienen in :PERSPEKTIVE 2/24]
Endnoten
¹ Ehrman, Bart D., Did Jesus Exist? The Historical Argument for Jesus of Nazareth (New York: HarperOne, 2012), S. 4; dt. Zitat aus McLaughlin, Rebecca, Ostern – unglaublich? Vier Fragen, die jeder an die Auferstehungsgeschichte stellen sollte (München/Dillenburg: cvmd und CV Dillenburg, 2023), S. 17
² Bauer, Bruo, Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker (Leipzig: Wigand, 1841)
³ Price, Robert M, Deconstructing Jesus, (Amherst, NY: Prometheus Books, 2000); Price, Jesus at the Vanishing Point in Beilby, James K. (Hg.), The Historical Jesus, Five Views (Downers Grove, IL: IVP Academic, 2009), S. 55–103
⁴ Howatson, M. C. (Hg.), The Oxford Companion to Classical Literature, 2. Aufl. (Oxford: Oxford University Press, 1997), S. 548
⁵ Stark, Rodney, The Rise of Christianity: How the Obscure, Marginal Jesus Movement Became the Dominant Religious Force in the Western World in a Few Centuries (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1996)